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Wer cancelt was?

Geschichte sollte immer wieder neu kritisiert werden!

In Europa wird Cancel Culture oft mit Zensur, dem Ende der Meinungsfreiheit oder, noch schlimmer, der Amerikanisierung der Gesellschaft in Verbindung gebracht. Auch wenn die Cancel Culture nicht frei von Auswüchsen und Fehlern ist, so ist der Aufschrei,
den sie auslöst, verdächtig, weil er System hat.

Dieser Text ist entstanden, um die wesentliche Problematik hinter dem Gezeter, den Vorverurteilungen und den Grundsatzpetitionen zu verstehen. Denn im Gegensatz zu den empörten Reaktionen zeigt sich, dass man jedes Mal, wenn die Cancel Culture irgendwo auftaucht, etwas dazulernen kann.

Laure Murat macht bewusst, dass sich der Blick auf unsere Geschichte ständig ändert und wir sie ständig neu und kritisch betrachten müssen.

Beginnen wir mit einer einfachen Definition, wobei wir zwischen dem Wort und der Sache, dem Begriff an sich und der Realität unterscheiden, auf die er sich bezieht. Die Cancel Culture oder wörtlich die Kultur der Annullierung ist im Wesentlichen ein polemischer, pejorativer Begriff, ein „Ausdruck der amerikanischen Rechten, der von europäischen Neokonservativen übernommen wurde, um progressive Forderungen besser disqualifizieren zu können“, wie André Gunthert formuliert hat. Der Begriff bezeichnet eine Reihe von Forderungen, die aus der radikalen Linken stammen und eine konkrete Änderung der Praktiken in der Gesellschaft verlangen, die beschuldigt wird, eine rassistische, sexistische und unterdrückte Bevölkerungsgruppen ignorierende Kultur aufrechtzuerhalten. Als kritisches Instrument von Minderheiten, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen, besteht sie insbesondere darin, als verwerflich oder beleidigend empfundene Äußerungen oder Handlungen von Personen, Unternehmen oder Institutionen aufzudecken und ihnen vor allem über soziale Netzwerke jegliche Unterstützung streitig zu machen.

Cancel Culture ist also in erster Linie eine Ausdrucks- und Protestform, die aus Reden und gemeinsamen Aktionen zu politischen Rechten besteht: Demonstrationen, Boykotte, Warnungen (oder Whistleblowing). Black Lives Matter, gegründet 2013, oder #MeToo, gestartet 2017, gehören zu den Bewegungen, die sich der Cancel Culture bedienen, um ungerechte Zustände anzuprangern und Institutionen dazu aufzufordern, ihre Verantwortung zu übernehmen, indem sie keine Persönlichkeiten mehr ehren, die rassistischer Handlungen oder sexueller Übergriffe beschuldigt werden. Daher der andere Name der Cancel Culture, der der Realität dessen, was sie hervorbringt, näher kommt: Accountability Culture („Kultur der Verantwortung“) oder auch Woke Thinking („waches Denken“), zu dem die zahlreichen Interventionen von Greta Thunberg gehören, die 2018 den Schulstreik für das Klima initiierte und Regierungen des Ökozids beschuldigte.

Die Cancel Culture ist ein Aufruf, zu seinen ideologischen Positionen zu stehen, und ein Anstoß für ethisches Denken. Sie fordert die Macht heraus, hinterfragt die Widersprüchlichkeit öffentlicher Personen und die Komplizenschaft der Institutionen. Sie ist eine performative Aktion, die sich um größere soziale, ökologische und wirtschaftliche Gerechtigkeit bemüht und hauptsächlich über soziale Netzwerke umgesetzt wird, ein mächtiger Hebel, der jedem zur Verfügung steht. Die Cancel Culture ist die Ausübung von populärem Druck auf die Sphären der Macht.“

Laure Murat
Wer cancelt was?
48 Seiten, Broschur
11,5 cm x 19 cm
€ 12,–
ISBN 978-3-902968-79-1

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