Top

Neue Vorsicht

Innerer Abstand zu Krisen und Blasen

Kann in einer maßvollen Realitätsverweigerung auch eine Befreiung liegen? Im Zeitalter der Katastrophen und ihrer permanenten, aufgeregten Vermarktung in den diversen Blasen versucht dieses Buch das Bedürfnis nach Desinvolvierung, nach Abstand, ruhigem Nachdenken und einem sinnvollen Engagement begrifflich zu erfassen, ohne in die dafür heute so populären Haltungen von Nostalgie oder Resignation zu verfallen.

„Die letzten Jahre haben einen Boom des politischen Aktivismus erlebt: Die Ungerechtigkeit der Welt wird wieder vermehrt in ihren rassistischen, sexistischen und ökologisch katastrophalen Problemzusammenhängen erfasst und mannigfaltig auf den Straßen, in den Wäldern und Zeitungen, auf den Messen und Social Media-Plattformen skandiert und bekämpft. Gleichzeitig macht sich ein großes Bedürfnis nach Rückzug und Desinvolvierung aus der rasenden, hypervernetzten Welt des Disasterkapitalismus bemerkbar, welches wohl seinen stärksten Ausdruck in der euphorischen Überaffirmation des sogenannten Social Distancing in der ersten pandemisch bedingten Lockdownphase 2020 erlebt hat: Landflucht, Rückzug, Nicht-Berührbar-Sein-Wollen und ein oftmals strenges Sich-Raushalten aus den als falsch erkannten Diskursen haben zum ersten Mal landläufig eine positive, gar progressive Konnotation erfahren.“

1. Vorwort

No Speciecism!
No Racism!
No Nationalism!
No Sexism!
No Antisemitism!
No Fascism!
No Capitalism!
No Homophobia!
No Discussion!


Menschen, die in links-aktivistischen Kontexten unterwegs sind, kennen solche auf Stickern und Bannern versammelten Grundsätze. Als ich im Spätsommer 2021 bei den Besetzungen gegen den Bau der Lobau-Autobahn mitmachte, sah ich einen solchen Banner jeden Tag, als ich das sogenannte „Grätzl“ – die erste von schließlich drei besetzten Baustellen – betrat. Und jedes Mal wurde mir etwas flau im Magen.

Nicht, weil ich politisch anderer Meinung gewesen wäre – diese Grundsätze beschreiben ex negativo genau den Grund, weswegen ich gekommen war. Aber ich fühlte mich irgendwie verlogen, nicht „rein“ genug. Kann ich – ein weiß und männlich gelesener Mensch aus mittelständisch privilegierten Verhältnissen – wirklich mit gutem Gewissen behaupten, dass ich gänzlich frei bin etwa von Sexismus oder Rassismus? Log ich nicht jedes Mal performativ durch meine Handlung, wenn ich trotz dieser Grundsätze den besetzten Raum betrat?

So wie ich es verstehe, ist unsere Gesellschaft so tiefgehend von rassistischen, sexistischen, speziesistischen usw. Strukturen durchzogen, dass man als von dieser geprägtes Subjekt nicht frei von ihnen sein kann. Ich kann also nicht mehr tun, als mir dieser toxischen Strukturen bewusst zu werden und möglichst aktiv daran zu arbeiten, sie abzubauen und zu bekämpfen. Sie gänzlich zu negieren, erscheint mir allerdings als ein gefährlicher Weg, der diese Strukturen unansprechbar macht und gleichzeitig bewahrt.

Dies hätte ich gerne angesprochen am Eingang der Besetzung, doch das abschließende Diktum „No Discussion“ war eindeutig. Schließlich waren wir ja alle hier, um etwas anderes zu tun: den Bau einer unsere Zukunft bedrohenden Autobahn zu verhindern! Ich hielt also meinen Mund und machte mich an die Arbeit. Ich glaube, dass das flaue Gefühl in meinem Magen mehr Vorsicht und Rücksicht in mir bewirkt hat, als es eine ausgiebige Diskussion bewerkstelligt hätte. Bei dieser hätte ich wahrscheinlich nur viel Platz mit meinen Fragen eingenommen und den Raum mit meiner privilegierten Position und deren Problemen besetzt. Auch wenn mich der Banner anfangs irritiert oder gar genervt hat („Schreckt eine solche Verneinungsliste nicht viele Bündnispartner*innen von vornherei ab?“), glaube ich retrospektiv, dass durch das „No Discussion!“ in diesen spezifischen Kontext die beste Mischung aus Offenheit und Inklusivität bei gleichzeitiger Bewahrung der für die Besetzung notwendigen Zielgerichtetheit entstand. Diese Balance ist für politischen Aktivismus zentral. Einerseits will man die Öffentlichkeit für seinen Zweck gewinnen und muss also rausgehen und Aufmerksamkeit für ein im Mainstream zu wenig beachtetes Problem generieren. Andererseits braucht man einen gewissen Grad an Abstand von diesem Mainstream, um das von der Mehrheit einfach Hingenommene überhaupt erst als bekämpfenswertes Problem zu erkennen.

Die letzten Jahre haben einen Boom des politischen Aktivismus erlebt: Die Ungerechtigkeit der Welt wird wieder vermehrt in ihren rassistischen, sexistischen und ökologisch katastrophalen Problemzusammenhängen erfasst und mannigfaltig auf den Straßen, in den Wäldern und Zeitungen, auf den Messen und Social Media-Plattformen skandiert und bekämpft. Gleichzeitig macht sich ein großes Bedürfnis nach Rückzug und Desinvolvierung aus der rasenden, hypervernetzten Welt des Disasterkapitalismus bemerkbar, welches wohl seinen stärksten Ausdruck in der euphorischen Überaffirmation des sogenannten Social Distancing in der ersten pandemisch bedingten Lockdownphase 2020 erlebt hat: Landflucht, Rückzug, Nicht-Berührbar-Sein-Wollen und ein oftmals strenges Sich-Raushalten aus den als falsch erkannten Diskursen haben zum ersten Mal landläufig eine positive, gar progressive Konnotation erfahren.

Szenen wie die eingangs beschriebene verdeutlichen diese Grundspannung der aktivistischen Gegenwart. Die Welt ist eine vielfache, beinahe unüberschaubare Katastrophe und es gilt unbedingt etwas an ihr zu ändern. Gleichzeitig muss man seine Angriffsfläche mit Bedacht wählen und von ganz vielen Dingen wegschauen, um an einer Stelle überhaupt produktiv handeln zu können. Wir diskutieren hier jetzt nicht die Philosophie der Diskriminierung, sondern verhindern diese fucking Autobahn! Um etwas zu ändern, muss man von viel anderem wegsehen – denn das Zuviel lähmt zu leicht.

Traditionellerweise wird Sich-Raushalten als reaktionärer Eskapismus und bürgerlicher Defaitismus verstanden. „Wie kannst Du im Angesicht der Lage nur untätig bleiben?“ Eine progressive Affirmation der Desinvolvierung fehlt in den meisten aktivistischen Kontexten, weswegen Burnout, Erschöpfung und Zersetzung so oft zum Problem werden. Es mag zur Zeit des Ausnahmezustandes während der Covid-Pandemie gar nicht richtig aufgefallen sein, bedarf meines Erachtens aber umso mehr einer gründlichen, theoretischen Nachbetrachtung: Zum ersten Mal war Sich-Raushalten und Zuhause-Bleiben die progressive Tugend der Stunde. Anschließend an diese Zäsur möchte ich in diesem Essay fragen: Wann, wie und unter welchen Bedingungen kann das Abstand- und Raushalten fortschrittlichsein? „No Discussion“ mag im Kontext der Lobaubesetzung der zielführendste Weg gewesen sein. In diesem kleinen Buch möchte ich mich in eher aphoristisch gehaltenen Denkanstößen dem bisher wenig reflektierten Bedürfnis dahinter widmen und versuchen, es im Zeitalter der ökologischen Katastrophen und hypervernetzten Welt des digitalen Anthropozäns als unabdingbare Strategie zu verorten. Wann wird eine kompromisslos und unabdingbar vorpreschende Haltung zum Problem? Wieviel Filterarbeit braucht ein effizienter Aktivismus? Und wann und wie kann Sich-Raushalten nicht als stillschweigendes Einlenken mit der furchtbaren Norm, sondern als notwendiges Fokussieren und Konzentrieren der Kräfte für den Kampf um Veränderung verstanden werden? Grundannahme dieser hier tentativ skizzierten Ethik ist, dass es das Bedürfnis nach Desinvolvierung und Abstandnehmen stets und in egal welchem politischen Lager gibt, es bislang aber noch kaum gelungen ist, dieses Bedürfnis auf einen progressiv-emanzipatorischen Begriff zu bringen.

Ausgangspunkt für diese Untersuchung sind drei Aphorismen Friedrich Nietzsches, die mich und zwei ähnlich aktivistisch interessierte Denker-Freundinnen (Jorinde Schulz und Michael Hirsch) seit Jahren verfolgen. Der als aristokratisch verschrieene Philosophmit-dem-Hammer Nietzsche ist für viele sicherlich eine überraschende Wahl, um über politischen Aktivismus in der Gegenwart nachzudenken. Doch es ist vielleicht gerade aufgrund seiner Ferne zum heutigen politischen Agitieren, dass Nietzsches Aphorismen etwas ausdrücken, was dem überbeschäftigten, aktivistischen Räsonieren großteils fehlt und dieses so – „von Außen“ – befruchten kann. Bekanntermaßen inspiriert Nietzsche spätestens seit Michel Foucault und Gilles Deleuze Denkerinnen, die dem Links-Aktivismus um vieles näher stehen, als es der bärtige Einzelkämpfer in seinen geistigen Höhenlagen tat.

Als ich im letzten Spätsommer und Herbst also auf den besetzten Baustellen war, mich oftmals am geschäftigen, vielfach freudig aufreibenden Treiben involvierte, aber immer wieder auch das starke Bedürfnis verspürte, aus ihm rauszufallen, kamen mir diese drei Aphorismen wieder verstärkt in Erinnerung. Sie drücken für mich in ganz seltsamer Sprache ein Verständnis der Notwendigkeit von Desinvolvierung um die Welt zu verändern aus, welches den aktivistischen Kontexten, denen ich mich zugehörig fühle, oftmals abgeht. Auch auf dieser Besetzung traf ich viele, die – kaum 20 geworden – ihren ersten Burnout schon hinter sich hatten und bei vielen anderen merkte man, dass sie nah dran sind. Aktivismus wird oftmals mehrheitlich von der Generation U30 getragen – und dies liegt meiner Meinung nach nicht nur daran, dass man in diesem Lebensabschnitt noch vergleichsweise viele „Freiheiten“ hat, sondern auch daran, dass man in diesem Alter die Aufreibungen des Aktivismus kräftemäßig noch wegstecken kann. Da ich mittlerweile über 30 bin und weiterhin besetzen, demonstrieren und agitieren will, flüchtete ich immer wieder mit meinem Computer in ein ruhiges Eck des Klimacamps der Besetzung, wobei manche der hier versammelten Absätze geschrieben und vieles vorher Geschriebene in die hier vorliegende Form gebracht wurde. Ich zog mich im Aktivismus in die Neue Vorsicht zurück, um dann wieder aktiver an der Besetzung teilnehmen zu können. Die folgenden Texte sind das Ergebnis eines persönlichen – und vielfach kollektiv und gemeinsam ausgetragenen –, jahrelangenProzesses, in dem ich mein links-aktivistisches Selbstverständnis mit dem Bann dieser nietzscheanischen Zeilen, die mich so oft wieder eingeholt, provoziert, angestachelt, verärgert, hinterfragt und inspiriert haben, zu vereinen versuchte. Die Aphorismen sprechen alle drei auch für sich alleine, weswegen ich sie im nächsten Kapitel unkommentiert wiedergebe – die Leser*in soll sich gerne diesen starken Sätzen ungeleitet aussetzen und sie wirken lassen, bevor ich meine Gedanken von ihnen weg entwickle. Heraus gekommen sind in diesem Buch Bruchstücke einer erweiterten Philosophie des Aktivismus, die nicht immer gänzlich zusammenhängen oder ausformuliert sind. Dann war der Moment, wieder zum Handeln überzugehen, zu stark. No Discussion.

Dieser Text ist vorrangig für – und teilweise mit – Freund*innen geschrieben worden. Ich scheue in ihm nicht die Widersprüche und sehe in den folgenden Kapiteln viel eher eine situierte Untersuchung der gewundenen Wege einer politischen Ethik (im Sinne von „Haltung finden“) im Zeitalter der Katastrophen, als eine der sogenannten „Politik“, die allgemeine, widerspruchsfreie Ansprüche, Wahrheiten oder Positionen formuliert. Diese politische Ethik ist der Versuch, über das Wegsehen und Rückziehen eine reflektiertere Basis zu schaffen, die aber vielleicht nur in der Flucht von dieser Basis ihren Sinn findet.

Eine zentrale These dieses Buchs ist es, dass der Schluss auf die gesamtgesellschaftliche Allgemeinheit stets Gefahr läuft, ihre vielfältigen und in sich gespaltenen Akteur*innen zu homogen darzustellen und in einem Sein festzuschreiben. Deswegen plädiere ich dafür, immer wieder bewusst das Bedürfnis nach Überblick und Allgemeinbeschreibung fallen zu lassen und genau hinzuschmecken (Kapitel 6), wo genau die Spannungsverhältnisse noch unklar sind und die allgemeine Beschreibung und Einordnung die mikropolitische Wandlungsfähigkeit eher hemmt denn fördert. Die Grundsätze No Speciesim, No Racism etc. sind als allgemeine Verortung wichtig, doch viel öfter, als man denkt, ist es genau im Raum des „No Discussion“, wo die Wörter noch nicht hart die Realität zu- und beschreiben, in dem sich der meiste Wandel vollzieht. Ich möchte untersuchen, wie das Bedürfnis des Wegsehens und Abstandhaltens für einen konfrontationslustigen Aktivismus im sogenannten Anthropozän nutzbar und stark gemacht werden kann. Dieses Textprojekt versteht sich also als situierte, mäandernde und vom Mikropolitischen ausgehende Intervention und versucht von da aus ein politisches Denken anzustacheln, von gewissen Vorurteilen und Zwangsreaktionen zu befreien und dadurch um gewisse Bahnen zu erweitern.

Kilian Jörg
Neue Vorsicht
Philosophie des Abstands im Zeitalter der Katastrophe
102 Seiten, Broschur
11,5 cm x 19 cm
€ 12,–
ISBN 978-3-902968-78-4

12,00  inkl. MwSt. inkl. 10 % MwSt. zzgl. Versandkosten In den Warenkorb